Beyond Berlin
Grenzgänger
Onkel Emil sagte ´NEIN´: Widerstand in Berlin.
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Onkel Emil sagte ´NEIN´: Widerstand in Berlin.

Geschichten des Anti-Nazi-Widerstands gab es häufiger als viele vermuten. Einige sind berühmt, andere gerieten oft in Vergessenheit. Ruth Andreas-Friedrichs Tagebuch erzählt eine dieser Geschichten.

Es gibt eine Legende in der jüdischen Mystik. Sie erzählt von sechsunddreißig Gerechten, die in jeder Generation leben. Nur sechsunddreißig. Sie leben still, verborgen vor der Welt und voreinander. Doch ihretwegen bleibt die Welt bestehen. Wegen ihnen hält Gott seinen Zorn zurück — trotz allem. Sie sind unbekannt. Ganz gewöhnlich. Sie suchen keine Anerkennung. Aber ohne sie würde die Welt zerfallen.

Wie viele von ihnen lebten im Deutschland der zwölf NS-Jahre? Wie viele wussten, wie man NEIN sagt? Wie viele sagten JA — nicht zum Regime, sondern zu anderen? Zu Freunden, zu Nachbarn. Wie viele halfen, versteckten, beschützten, leisteten Widerstand?

Wenige, denken wir oft. Aber vielleicht mehr, als wir glauben. Historiker sprechen von mindestens 150.000 Menschen. Manche sagen 300.000. Andere sogar 500.000. Menschen, die auf unterschiedliche Weise Stellung bezogen: Unrecht anprangerten, das Regime sabotierten, einfache Menschlichkeit zeigten. Viele blieben unsichtbar. Unbekannt — vielleicht sogar sich selbst. Wie die Gerechten der Legende.

Und wie Deutschland sich an sie erinnerte, half nicht.

In Westdeutschland galten Widerstandskämpfer nach 1945 jahrelang als Verräter. Die Anerkennung kam nur langsam – einige wurden erst später zu gefeierten Persönlichkeiten. Man kennt die Namen: Stauffenberg und die militärische Elite des 20. Juli-Attentats. In Ostdeutschland hingegen wurden ausschließlich kommunistische Widerstandskämpfer geehrt. Die anderen? Sie wurden ignoriert oder sogar mit Argwohn betrachtet.

Erst ab den 2000er-Jahren wurden viele von ihnen endlich gewürdigt. Und doch bleibt vieles im Verborgenen. Diese Geschichten tauchen nur gelegentlich auf — bei Gedenktagen oder durch Zufall.

So bin ich Ruth Andreas-Friedrich begegnet.

Ihr Gesicht sah ich auf einer Tafel am Brandenburger Tor. Ein eindrucksvolles Foto. Und ein Zitat, das mich sofort innehalten ließ. Sie war Journalistin. Eine emanzipierte Frau, die das Leben liebte. Und ab 1938 leistete sie Widerstand. Um sie versammelte sich eine kleine Gruppe von Freunden. Keine Parteifahnen. Nur Mut. Und ein seltsamer Name: „Onkel Emil.“

Heute möchte ich euch ihre Geschichte erzählen.
Kommt mit.
Aber zuerst: Hört Ruth zu. Ihre Worte sagen alles.

"Der endgültige Sieg ist, wenn die Alliierten durch das Brandenburger Tor marschieren. Und wieder einmal denke ich, wie schon so oft zuvor: Was für ein Paradox, dass ein Deutscher für den Sieg des Feindes betet! Eine seltsame Liebe zur Heimat, die sich nichts Besseres wünschen kann als ihre eigene Niederlage." — Ruth Andreas-Friedrich

Berlin, 18.-19. April 1945: Ein einziges Wort gegen den Krieg.

Die Nacht zwischen dem 18. und 19. April 1945. Kalte Luft. Wolken. Tagsüber etwas Regen. Rauch steigt noch aus den ausgebombten Häusern. Jetzt, in der hereinbrechenden Nacht, vermischen sich die Wolken mit Staub – Staub, den der Schutt aufwirbelt. Die Stadt riecht nach Asche und nassem Stein. Menschen kriechen aus Bunkern, um nach Hause zu gehen. Sie sehnen sich nach einem Bett, und sei es nur für wenige Stunden.

Selbst der Mond ist verschwunden. Nur Dunkelheit. Und dann, in dieser Dunkelheit, kommen sie heraus. Zu zweit. In Stille. Überall in der Stadt. Männer und Frauen, die sich wie Schatten bewegen. In ihren Händen: Kreide, Farbe, Pinsel – versteckt in Ärmeln, unter Mänteln. Ihre Mission ist einfach, aber gefährlich: Ein Wort schreiben. Ein einziges Wort. Überall.

Vier Buchstaben: „N-E-I-N".

Dies sind die letzten Tage des Krieges. Die sowjetischen Truppen rücken näher. Die Stadt ist umzingelt. Alle wissen: Es ist vorbei. Nur einer nicht – Hitler. Er hat beschlossen, die Hauptstadt mit in den Untergang zu reißen. Ein letzter Akt des Wahnsinns. Doch nicht alle folgen ihm. Nicht alle wollen für ihn sterben.

Also sagen sie nein. Nein zum Selbstmord. Nein zum Blutvergießen. Nein zum Führer. Nein zu diesem Krieg. In den Tagen zuvor haben sie sich organisiert: Die Stadt in Zonen aufgeteilt. Jedes Paar übernimmt eine. Heute Nacht ist es soweit.

Unter ihnen: Ruth Andreas-Friedrich und Walter Seitz. Sie sind Freunde und Teil des Widerstands. Seit 1938 haben sie getan, was sie konnten: Juden versteckt, Papiere gefälscht, Lebensmittel geschmuggelt. Nachrichten übermittelt und die Hoffnung am Leben gehalten.

Aber diesmal fühlt es sich anders an. Größer. Eine ganze Stadt wird aufwachen und „NEIN" an ihren Mauern sehen. Und Ruth hat alles aufgeschrieben. Seit 1938 führt sie Tagebuch. Und so schreibt sie heute Nacht:

»Irgendwo in der Ferne bellt ein Hund. Meine Hände beginnen zu zittern. Neben mir höre ich Frank rasch und unruhig atmen. Nur jetzt nicht weich werden, denke ich. Zögernd mache ich ein paar Schritte nach rechts. Spüre zwischen meinen Fingern die kalte Ecke eines Briefkastens. N-E-I-N male ich mit zusammengebissenen Zähnen hastig auf den breiten Einwurfschlitz. Die senen Zähnen hastig auf den breiten Einwurfschlitz. Die Kreide quietscht. So muß es Blinden beim Schreiben zumute sein. Ich drehe mich um. »Du, es geht!« will ich flüstern. Nein – Nein – Nein. Entweder ganze Arbeit oder keine. Wir malen und schreiben mit gesammelter Inbrunst. Auf Bordschwellen und Telegraphenmaste, auf Gartentore und Litfaßsäulen. Wo immer sich ein Blickfang findet, wird ihm das Nein als farbiges Siegel aufgedrückt.« – 18 April 1945

Die Angst ist real. Polizeistiefel hallen durch die Straßen. Manchmal bleiben sie stehen und tun so, als würden sie sich küssen, um unauffällig zu wirken. Manchmal drücken sie sich reglos an die Wand. Doch mit jedem Wort, das sie schreiben, wächst ihr Mut.

Im Morgengrauen sehen sie das erste Licht. Überall die Zeichen, die andere hinterlassen haben. Sie sind nicht allein: Der Plan hat funktioniert. Die Farbe ist fast aufgebraucht, die Kraft schwindet. Und dann sehen sie es: Eine hohe Anschlagtafel, die wie eine Statue in der Dämmerung steht. Darauf:

»"Die Juden sind unser Unglück.«

Ruth beobachtet. Frank klettert hinauf. Langsam. Ruhig. Er taucht den Pinsel in rote Farbe. Viel zu langsam für ihre Nerven. Sie starrt auf das Schild.

»Jetzt setzt er den Pinsel an. Dunkelrot tropft die Farbe auf das Pflaster. Als ob es Blut wäre, kommt es mir in den Sinn. »Die Juden sind unser Unglück!« N-E-I-N! In handbreiten Balken leuchtet Franks Protest von der hölzernen Anschlagtafel. Wie ein Künstler betrachtet er sein Werk. »Komm!«, dränge ich. »Komm!« Im Morgengrauen machen wir uns auf den Heimweg.«

In dieser Nacht fallen keine Bomben. Sie schlafen. Fast wie ein Zeichen.

Am nächsten Tag: Teil zwei. Diesmal: Flugblätter. Kurze Texte. Heimlich gedruckt. Zum Anbringen und Verteilen, wo auch immer jemand sie lesen könnte. Die Botschaft ist eindeutig:

»Berliner! Soldaten, Männer und Frauen! Ihr kennt den Befehl des Wahnsinnigen Hitler und seines Bluthunds Himmler, jede Stadt bis zum äußersten zu verteidigen. Wer heute noch die Befehle der Nazis ausführt, ist ein Idiot oder ein Lump.

Berliner! Folgt dem Beispiel der Wiener! Durch versteckten und offenen Widerstand haben die Wiener Arbeiter und Soldaten ein Blutbad in ihrer Stadt verhütet.

Soll Berlin das Schicksal von Aachen, Köln und Königsberg erleiden? NEIN! Schreibt überall euer Nein an! Bildet Widerstandszellen in Kasernen, Betrieben, Schutzräumen! Werft alle Bilder von Hitler und seinen Komplicen auf die Straße! Organisiert den bewaffneten Widerstand!«

Eine weitere Nacht. Noch mehr Angst. Ruths Knie zittern, als sie und ihr Begleiter fast entdeckt werden. Trotz der wachsenden Schwierigkeit machen sie weiter und vollenden ihre Mission. Beim Verteilen der letzten Flugblätter schreibt Ruth und erinnert sich an jene, die ihr Leben im Widerstand geopfert haben:

»Mir ist, als hätte ich eine Bergtour hinter mir. Leibesvisitation – Verhaftung – Standgericht – Galgen. Daß man so hart an der Grenze des Lebens steht! Daß es so leicht ist, mit dem Kopf in die Schlinge zu geraten. Sie alle fallen mir ein, die für uns gestorben sind. Ob man dem Grafen Moltke1 später ein Denkmal setzen wird? Um fünf Uhr morgens sind wir daheim.«

Ruth Andreas-Friedrich: Die Journalistin, die sich für den Widerstand entschied.

Wer war Ruth Andreas-Friedrich? Und wie wurde aus einer Berliner Feuilletonistin eine der wichtigsten Chronistinnen des alltäglichen Widerstands im NS-Regime?

Sie wurde 1901 als Ruth Frieda Mathilde Behrens in Berlin geboren. Ihr Vater war Jurist und höherer Militärbeamter, ihre Mutter stammte aus bürgerlichem Hause. Ruth sollte eigentlich Krankenschwester werden, doch sie hatte andere Pläne – sie liebte Bücher und wollte schreiben. So begann sie eine Ausbildung zur Buchhändlerin und heiratete 1924 Otto Friedrich, der später Fabrikdirektor und Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände werden sollte.

Verheiratet zwar – aber nie ans Haus gefesselt. Nicht in Berlin, nicht in den 1920er Jahren.

Ruth tauchte ein in die kulturelle Energie der Weimarer Hauptstadt. Sie startete ihre Karriere als Journalistin und schwelgte im Kaffeehausleben der Stadt – umgeben von Schriftstellern, Künstlern, Musikern und Träumern. Sie trug ihr Haar kurz, tanzte durch die Nächte und erkannte früh, dass Monogamie nichts für sie war. Die Ehe scheiterte, aber die Freundschaft blieb – und mit ihr der Name: Ruth Andreas-Friedrich.

Ruth Andreas-Friedrich, photograph from 1938 / Source: private Friedrich/Hess family, via Gedenkstätte Stille Helden

Zu diesem Zeitpunkt war sie keine politische Journalistin. Sie verfasste leichte Feuilletons und Ratgeberkolumnen, Prominentenporträts – Geschichten wie „Greta Garbos Debüt vor der Kamera". Selbst nach der Machtergreifung der Nazis 1933 konnte sie weiterhin als freie Autorin für verschiedene Frauenzeitschriften arbeiten.

Doch alles begann sich 1931 zu ändern, als sie Leo Borchard kennenlernte. Er war klassischer Dirigent, in Moskau als Kind deutscher Eltern geboren. Die Nazis setzten ihn bald auf die schwarze Liste. Er bestand darauf, mit jüdischen Musikern zu arbeiten – was ihn schnell „politisch unzuverlässig" machte. Ruth und Leo wurden ein Paar, jeder mit eigener Wohnung in einem bescheidenen Haus in Berlin-Steglitz – eine Etage übereinander. Ruth hatte eine kleine Tochter; Leo lebte allein.

Gemeinsam bildeten sie einen Freundeskreis. Intellektuelle, Künstler. Viele von ihnen Juden. Anfangs war die Gruppe nicht politisch, nur eine lebenslustige, bohemistische Runde. Und unabhängig. Doch die Dinge änderten sich rasch. Die Schikanen gegen Juden nahmen zu. Immer mehr Freunde verloren ihre Arbeit, ihre Wohnungen, ihre Rechte. Einige begannen, in den Untergrund zu verschwinden. Die Perspektive änderte sich. Aus Sorge wurde Handeln. Aus Mitgefühl wurde Widerstand.

Ihr Freundeskreis – die Clique, wie sie sie liebevoll nannte – wuchs zu einem Widerstands-Netzwerk heran. Sie halfen Menschen beim Verstecken, beim Beschaffen von Nahrung, beim Fälschen von Dokumenten, beim Überleben.

Ruth begann zu schreiben. Ihr Tagebuch wurde zur Chronik von Terror und Solidarität, von Verlust und Würde, von unnachgiebiger moralischer Klarheit in einer Zeit des Wahnsinns.

Es beginnt im September 1938, als Hitler während der Sudetenkrise den Druck auf die Tschechoslowakei erhöhte. Am 27. September, wenige Tage vor dem Münchner Abkommen, stand Ruth vor der Reichskanzlei und beobachtete Hitlers Truppen bei der Parade. Sie war umgeben von Stille – nicht von Jubel. Eine Stadt, die den Atem anhielt.

»Es besteht kein Zweifel daran, dass Hitler den Krieg will. Wir haben ›Nein‹ gesagt – Gott, was rühme ich mich! – ›Nein‹ gedacht!« – 27 September 1938

Und nach dem Kristallnacht-Pogrom vom 9. November 1938 wurden aus diesen Gedanken Taten. Die Clique ging in den Untergrund. Ruth führte ein Doppelleben – an der Oberfläche als Redakteurin von Frauenzeitschriften, trotz zunehmender Zensur. Gleichzeitig wurde ihre Wohnung in der Hünensteig 6 im Süden Berlins zum Unterschlupf, Treffpunkt und Nervenzentrum des stillen Widerstands.

Dies markierte den Beginn eines neuen Kapitels in Ruth Andreas-Friedrichs Leben. Ein Kapitel des Mutes. Der Gefahr. Der Integrität. Und vor allem der Erinnerung – denn sie glaubte fest daran, dass manche Geschichten erzählt werden müssen, selbst wenn das Schreiben einen das Leben kosten kann.

Der Krieg beginnt. Erst gegen das eigene Volk. Dann gegen die Welt.

Berlin, 8. November 1938. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Ein junger jüdischer Emigrant hat in Paris einen deutschen Botschaftsangehörigen erschossen. Die Presse überschlägt sich, die Schlagzeilen schreien. Ruth notiert es in ihrem Tagebuch. Andrik – ihr Geliebter, Leo Borchard – spürt eine düstere Vorahnung. Das werden sie ausnutzen. Es wird in etwas Furchtbares münden. Er behält Recht. Am nächsten Tag beginnt es.

9 November 1938. Kristallnacht. Die Nacht des zerbrochenen Glases. Fenster bersten. Häuser brennen. Synagogen stehen in Flammen. Menschen verschwinden.

Am Morgen des 10. klopft es an Ruths Tür. Ein jüdischer Freund, ein Anwalt, steht davor. Er braucht Zuflucht. Sie lässt ihn ein. Dann macht sie sich auf den Weg zur Arbeit, ins Redaktionsbüro. Sie will hören, was die Leute sagen – oder verschweigen. Ihr Chef bleibt stumm. Ein Redakteur grinst selbstgefällig. Nur eine Stimme bebt vor Zorn: eine junge Redakteurin, "Karla" (echter Name: Susanne Simonis):

»Wir sollten uns eigentlich selbst anspucken, dass wir hier so stehen und den Mund nicht aufmachen!" (...) "Natürlich sollten wir uns anspucken. Aber wem nützt es denn, den Mund aufzumachen, wenn sie einen im nächsten Moment am Kragen packen und still und leise einen Kopf kürzer machen? Märtyrer brauchen ein Publikum. Der anonyme Tod als Opfer hat noch niemandem geholfen." – 10. November 1938«

Es ist ein Moment der Wahrheit. Zwei Dinge werden Ruth klar: Man muss handeln – aber mit Bedacht. Worte allein sind jetzt nicht der richtige Weg. In diesem Moment entsteht die Idee des stillen Widerstands. Das Bewusstsein, dass der Krieg längst begonnen hat. Nicht nur jener, den alle fürchten, sondern der im eigenen Land: Ein Krieg gegen Nachbarn, gegen Juden, gegen Freunde.

Anfang 1939: Ruth widmet ihre Tage der Rettung. Sie hilft Menschen bei der Flucht, schmuggelt Ersparnisse ins Ausland, sucht nach Verhafteten. Zu dieser Zeit hat das Regime den nächsten Feind bereits auserkoren: Polen. In Deutschland wird „Danzig" zum Schlachtruf. Die Kriegsmaschinerie läuft warm.

Im August 1939 sind Ruth und Andrik in Schweden. Freunde beten sie zu bleiben – dort wären sie in Sicherheit. Doch sie kehren nach Berlin zurück. Bei ihrer Ankunft sehen sie es sofort: Alles hat sich verändert. Generalmobilmachung. Der Krieg beginnt. Dann, im November 1939: Der erste Versuch, Hitler zu töten. Er scheitert.

Dezember 1939. Erstes Kriegsweihnachten – und damit die erste „Hitler-Weihnacht". Ja, sie schrieben sogar die Weihnachtslieder um:

»Stille Nacht, heilige Nacht, / Alles schläft, einer wacht, / Nur der Kanzler in treuer Hut, / Wacht über Deutschlands Wohlergehen gut, / Stets in Sorge um uns. / Stille Nacht, heilige Nacht, / Alles schläft, einer wacht, / Adolf Hitler für Deutschlands Geschick, / Führt uns zu Größe, / zu Ruhm und zu Glück, / Gibt uns Deutschen die Kraft.« "Weihnachten im Dritten Reich" von Fritz von Rabenau2

Andrik liest es. Er wirft es auf den Küchentisch. "Was hältst du von dem Kunstwerk?" sagt er. Ruth ist erschüttert. Sie schreibt.

»Die geistige Katastrophe ist viel schlimmer als die materielle. Was den Menschen über Jahre hinweg an Unsinn, Geschichtsfälschung, Wahrheitsverdrehung und künstlerischer Verleumdung in die Köpfe gehämmert wurde, wird sich daraus nicht so leicht wieder entfernen lassen. Jeder von uns trägt irgendwo den Stempel des Dritten Reichs. Und auch der Untergang des Regimes wird aus Nazis keine Demokraten und aus Massenmenschen keine Persönlichkeiten machen. Hitler hat das Volk an Ekstasen gewöhnt. Es muss immer irgendwo „knallen”. Man steigert sich stets ins Maßlose. Die Entfesselung aller Werte hat sogar die Alltagssprache erreicht. Nichts wird mehr einfach „schön” genannt, weil es schön ist, oder „groß”, weil es groß ist. Alles, was sich nicht als „ungeheuer groß”, „übernatürlich schön” oder „einmalig wunderbar” präsentiert, schmeckt fade und kraftlos.«

Der Schaden ist überall. Aber vor allem — in der Sprache. In der Sprache.

1941: Unbesiegbar, aber nicht mehr lange.

1941 schien Hitler noch unaufhaltsam. Die deutsche Armee drang immer tiefer nach Europa vor. Sieg um Sieg. Stärke um Stärke. Und so wurde das Regime noch dreister. Härter. Grausamer.

Im September 1941 kam ein neues Gesetz. Alle Juden mussten den gelben Davidstern tragen. Ein Symbol, das isolieren sollte. Beschämen. Auf den Straßen machten sogar Kinder mit beim Spott. Dem Gelächter. Den Beleidigungen. Doch Ruth bemerkte noch etwas anderes. Und sie schrieb es auf:

»Das Gros des Volkes freut sich nicht über die neue Verordnung. Fast alle, die uns begegnen, schämen sich wie wir. Und selbst der Spott der Kinder hat mit ernsthaftem Antisemitismus wenig zu tun. Sie spotten, weil sie sich einen Spaß davon versprechen. Einen Spaß, der nichts kostet, da er auf Kosten von Wehrlosen geht.« — September 1941

Und dann – langsam und leise – begann sich der Wind zu drehen. Am 1. Dezember war von Triumph keine Rede mehr. Ruth schreibt: Die Deutschen stehen immer noch vor Moskau und Leningrad. Von Blitzsiegen spricht niemand mehr. Stattdessen zeigen sich Anzeichen von Panik und Wut, denn Stalin, so heißt es, habe die Zivilbevölkerung bewaffnet.

Aber die Lage wird noch düsterer. Sieben Tage später verschwindet eine Nachbarin: Margot Rosenthal, eine jüdische Frau. Sie wird im Morgengrauen abgeholt – ohne Vorwarnung. Die Nachbarn stellen Fragen, doch niemand weiß etwas. Am nächsten Tag schreien die Schlagzeilen: „Japan im Krieg mit den USA und England!" Aber das interessiert Ruth nicht.

»Wir hören kaum zu. Es interessiert uns nicht. Im Moment interessiert uns nur eines: Wo haben sie Margot Rosenthal hingebracht?« — 8. Dezember 1941

Einige Wochen später kommen Nachrichten. Margot ist in einem Ghetto nahe Landshut. Sie schreibt verzweifelte Briefe. Fleht um Essen, um Hilfe. Den ganzen Tag weint sie. Andrik und Ruth handeln sofort, schicken alles, was sie aufbringen können. Weihnachten naht, doch Ruth kann nicht feiern.

»Es dürfte keine Weihnachtsbäume geben, solange Menschen auf der Welt sind, die den ganzen Tag weinen müssen. In acht Tagen beginnt das vierte Kriegsjahr. Das zehnte Jahr unseres staatlichen Antisemitismus.« — 24 . Dezember 1941

Die Vernetzung des Widerstands. Die Geburt von „Onkel Emil".

Ab 1942 verstärkten Ruth Andreas-Friedrich und ihre „Clique" ihre Bemühungen, so vielen Menschen wie möglich zu helfen. Die entrechteten und verfolgten Menschen, besonders Juden, wurden im Wechsel versteckt. Für die Untergetauchten, bekannt als „U-Boote", stahlen sie Lebensmittelkarten. Sie fälschten Papiere für Flüchtende und unterstützten politische Gefangene samt deren Familien.

Es wurde jedoch deutlich, dass sie eine bessere Koordination brauchten – nicht nur innerhalb ihrer eigenen Gruppe, sondern auch mit anderen in der ganzen Stadt. Ruth beschreibt einen der entscheidenden Wendepunkte:

»"Eins steht fest", erklärt Frank nachdrücklich. "Die Zeit der Einzelkämpfer ist vorbei. Die Starken sind nicht länger allein die Mächtigsten. Wir müssen einen Stoßtrupp bilden, quer durch ganz Berlin. In jedem Bezirk müssen unsere Leute positioniert sein – verschworene Kameraden, auf die man sich bedingungslos verlassen kann. Der alte Kreis reicht nicht mehr…« — 1. August 1942

Sie begannen, ihr Netzwerk als "Onkel Emil" zu bezeichnen, ein Codewort, das bei plötzlicher Gefahr als Warnung dienen sollte. Die Mission entwickelte sich stetig weiter: Neben der Hilfe für Flüchtlinge umfasste sie nun auch die Sabotage von Fabriken und Eisenbahnlinien, die Verbreitung von Nachrichten und die Vernetzung mit anderen Widerstandszellen.

Im Herbst 1942 kam Ruth in Kontakt mit Mitgliedern des Kreisauer Kreises3, einer der aktivsten Widerstandsgruppen im nationalsozialistischen Deutschland.**

Die Gruppe brachte eine außergewöhnliche Koalition zusammen: bürgerliche Intellektuelle – Ärzte, Anwälte und Schriftsteller – sowie Menschen aus der Arbeiterklasse, darunter ein Konditormeister und ein Drucker. Mit der Zeit schlossen sich auch kommunistisch orientierte Arbeiter an. Zeitweise gehörte auch Cioma Schönhaus4, ein talentierter Grafiker und Passfälscher, zur Gruppe. Sie alle wirkten in einer sich dramatisch verändernden politischen Landschaft:

»Die Russen haben die Front durchbrochen. In Afrika machen die Engländer gewaltige Fortschritte. Schon wetten viele, daß der Krieg vor Ablauf der nächsten sechs Monate zu Ende sein wird.« — 22 . November 1942

Je schlechter die deutsche Armee kämpfte, desto brutaler wurde das Vorgehen gegen die Juden. Ruth und ihre Gruppe ahnten es damals noch nicht, aber die Wannsee-Konferenz im Januar hatte bereits die "Endlösung" beschlossen. Als im Dezember die Verfolgung sich verschärfte, suchten alle, die noch konnten, Zuflucht im Untergrund. Die Gerüchte waren längst keine vagen Andeutungen mehr:

»In Scharen tauchen die Juden unter. Furchtbare Gerüchte gehen um über das Schicksal der Evakuierten: von Massenerschießungen und Hungertod, von Folterungen und Vergasung. Niemand kann sich freiwillig solchem Risiko aussetzen. Jeder Unterschlupf wird zum Himmelsgeschenk, zur Rettung aus höchster Lebensgefahr. Der Ringverein schiebt sich die Einquartierungen gegenseitig zu. Ihr eine Nacht – wir eine Nacht! Dauergäste sind verdächtig. Ohnehin macht das ständige Kommen und Gehen die Nachbarn schon misstrauisch« — 2. Dezember 1942

Und Ruth schreibt, was sich so viele nicht laut zu sagen trauen:

»Verteidigen wir auf Rußlands Steppen die Judenevakuierung? Die Schmach der Konzentrationslager? Den Jammer verhungernder Kriegsgefangener? Verteidigen wir Hitlers Größenwahn? Oder Goebbels' Lüsternheit? Lassen sich unsere Männer millionenweise zu Krüppeln schießen, damit Herr Göring sich neue Paläste bauen kann?« — 22 . November 1942

1943: Totaler Krieg gegen die Menschlichkeit.

»Stalingrad ist gefallen. Dreihunderttausend deutsche Soldaten kehren nicht mehr zurück. Ihr Befehlshaber, General Paulus, lebt. Warum überleben immer die den Krieg, ihn arrangieren? Und fast niemals die, die ihn ausführen müssen?« — 6. Februar 1943

Die Deportationen der Juden sind in vollem Gange. Jemand muss für die Niederlage von Stalingrad bezahlen. Ruth geht von Haus zu Haus und sucht nach Menschen, die sie kennt. Doch oft findet sie nur leere Räume. Oder Orte, die von der Gestapo bereits verwüstet wurden. Dann kommt das Schlimmste. Am 18. Februar hält Goebbels seine fanatischste Rede:

»…Goebbels hält im Sportpalast eine »Kundgebung des fanatischen Willens« ab. »Für die Rettung Deutschlands und der Zivilisation!« »Nur der stärkste Einsatz, der totalste Krieg«, beschwört er seine Hörer, »kann und wird die Gefahr bannen.« »Total – totaler – am totalsten.« — 19. Februar 1943

Der totale Krieg bedeutet auch die vollständige Vernichtung des „inneren Feindes”. Die endgültige Liquidierung der Juden. Bis Ende Februar hatten Deportationen und Selbstmorde die Zahl der Juden in Berlin bereits auf etwa 26.000 reduziert. Dann folgte die sogenannte Fabrikaktion5. Aus Ruth Andreas-Friedrichs Tagebuch:

»Seit heute morgen um sechs Uhr fahren Lastautos durch Berlin. Eskortiert von bewaffneten SS-Männern. Halten vor Fabriktoren, halten vor Privathäusern. Laden Menschenfracht ein. Männer, Kinder, Frauen. Unter den grauen Planverdecken drängen sich verstörte Gesichter. Elendsgestalten, wie Schlachtvieh zusammengepfercht und durcheinandergewürfelt. Immer neue kommen hinzu, werden mit Kolbenhieben in die überfüllten Wagen gestoßen. In sechs Wochen soll Deutschland »judenrein« sein. Wir laufen herum. Wir telephonieren. Peter Tarnowsky – weg. Der Verleger Lichtenstein – weg. Unsere jüdische Schneiderin – weg. Unser nichtarischer Hausarzt – weg. Weg – weg – weg! Alle!« — 28. Februar 1943

Alliierte Bomben beginnen, auf Berlin zu fallen. Ruth schreibt über sie, aber vor allem schreibt sie über ihre Mitbürger: Sie verstehen nicht, warum sie bombardiert werden – warum ausgerechnet sie?

»Von der Ursache zur Wirkung ist ein langer Weg. Die wenigsten wissen ihn zu gehen. Kaum einer versteht, daß die Folge von heute der Anlaß von gestern sein kann. Der Anlaß Coventry, der Anlaß Dünkirchen, der Anlaß Judengreuel, Städte ausradieren und Konzentrationslager. Der Besen, der Deutschland judenrein kehrt, will nicht mehr in die Ecke zurück. Und die Geister, die man rief, wird man nun nicht los.« — 2. März 1943

Zu dieser Zeit erfährt Ruth und die Gruppe von der Weißen Rose. Eine studentische Widerstandsgruppe in München. Tausende von Flugblättern. Parolen an den Wänden: "Nieder mit Hitler! Es lebe die Freiheit!" Dann die Verhaftungen. Die Folter. Die Hinrichtungen. Ende März bringt ein Kurier ihnen zwei Exemplare des neuesten Weiße Rose Flugblatts6. Wenn dies das Vermächtnis dieser jungen Menschen ist, dann ist es ihre Pflicht, es weiterzutragen. Ein Exemplar gelangt in die Schweiz. Eines nach Großbritannien.

»Wir haben einen Weg gefunden, Flugblatt und Lagebericht in die Schweiz zu schmuggeln. Und einen zweiten über Schweden nach England. Den Geschwistern Scholl und Christoph Probst kann es nicht mehr schaden, wenn man ihre illegalen Taten in der Welt verbreitet. Uns aber ist es ungeheuer wichtig, daß man draußen erfährt, daß auch in Deutschland Menschen leben. Nicht nur Judenfresser, Hitlerjünger und Gestaposchergen. Viel zu wenig weiß die Welt bisher davon.« — 27. März 1943

Ruths Tochter Karin ist achtzehn Jahre alt. Erschüttert von der Geschichte von Hans und Sophie Scholl, schließt sie sich der Gruppe an.

Am 8. September verbreitet sich die Nachricht: Italien hat einen Waffenstillstand unterzeichnet. Eine weitere Front. Ein weiteres Schlachtfeld.

»Alle notwendigen Maßnahmen sind getroffen«, beruhigt unsere Heeresleitung. Seit gestern schießen Deutsche gegen Italiener, ist der Boden Italiens erneut zum Kriegsschauplatz geworden.« — 10. September 1943

1944: Terror und Warten.

»In Schrecken endete das alte Jahr. In Schrecken beginnt das neue. Schwerer Nachtangriff am 29. Dezember. Schwerer Nachtangriff am 1. Januar. Der schwerste Nachtangriff dieses Krieges am 2. Januar. Wir kehren Schutt. Wir nageln Pappen. Wir sitzen ohne Wasser, ohne Verkehrsmittel, ohne Strom. Auch das Telephon ist tot, und nur auf Umwegen erfährt man, ob die fernerwohnenden Freunde am Leben sind. Ein verheißungsvoller Jahresbeginn.«

Widerstand bedeutet 1944 zu überleben. Zu bleiben. Das wiederherzustellen, was vom Zuhause übrig ist. In den Ruinen zu leben. Sich selbst davon zu überzeugen, dass es immer noch ein Zuhause ist. Und zu warten.

Warten auf das Ende. Warten auf die Invasion.

Die „Onkel Emil"-Gruppe ist gut informiert. Sie verfügt über Quellen selbst innerhalb der Wehrmacht. Einer von ihnen ist unter dem Namen „Hinrichs" bekannt – mit richtigem Namen: Hans Peters. Ein Jurist. Jetzt Major im Luftwaffenkommando. Von den Nazis stets misstrauisch beäugt, aber nie gefasst. Ein Freund. Ein Mitglied der Gruppe. Er ist es, der Ruth eines frühen Morgens anruft.

»Hallo! Hallo! Ist dort 727035! Einen Moment, ich verbinde mit Major Hinrichs«, meldet sich eine aufgeregte Stimme am Telephon. Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen. Halb sieben Uhr früh. …Dann ist Hinrichs am Apparat. »Sind Sie schon auf?« fragt er fröhlich. »Haben Sie gut geschlafen? Übrigens, was ich noch sagen wollte: die Sendung ist eingetroffen! Jawohl! Mit dem ersten Morgenzug. Ziemlich gute Sache, wie mir scheint.« Mein Gehirn dechiffriert in Zeitraffertempo. Stichwort Sendung bedeutet Invasion . Das ist der Sprung auf den Kontinent . Die langersehnte Landung alliierter Truppen.« — 7. Juni 1944

6. Juni 1944. Die Alliierten landen in der Normandie. Der Krieg könnte wirklich zu Ende gehen.

Natürlich behauptet die Nazi-Presse, sie hätten damit gerechnet. Dass Gegenpläne bereit lägen. Aber Berlin wird weiterhin bombardiert. Jeden Tag. Mittlerweile kommt nicht einmal mehr die Propaganda hinterher. Hinrichs glaubt, das Ende ist nah. Auch der Widerstand spürt es.

»Irgend etwas liegt wieder mal in der Luft. Doch man wagt es nicht auszusprechen. Daß es zahlreiche Gruppen und Grüppchen gibt, die sich zu aktivem Handeln gegen das Regime zusammengetan haben, ist uns kein Geheimnis. Wir wissen, daß die Kommunisten arbeiten, daß die Sozialdemokraten eine Kampfgruppe bildeten, daß auch die Katholiken nicht untätig sind und daß man sich in Abwehr und Heeresleitung seit langem mit Umsturzgedanken trägt.« — 26 . Juni 1944

Die Hoffnung wächst. Aber auch der Zweifel.

»Die Zwickmühle bleibt die gleiche. Kann denn ein Grüppchen von zehn oder zwanzig Entschlossenen das Dritte Reich ins Wanken bringen? Und wir sind nur Grüppchen. Grüppchen in Berlin, Grüppchen in München, in Breslau, in Dresden oder Hamburg. Eine Handvoll hier, eine Handvoll dort, die, wie die Königskinder im Märchen, niemals zusammenfinden.« — 26. Juni 1944

Es bleibt nur eine Hoffnung: dass die Generäle tun werden, was Zivilisten nicht können. Hitler beseitigen. Den Krieg beenden. Dann kommt die Nachricht:

»Es ist soweit! Und kam viel schneller, als wir alle dachten. Noch weiß kein Mensch Genaueres. Hitler verletzt... Hitler tot! Ein Mordanschlag auf den Führer... Umsturz, Gewalt... Revolution... Revolution! Wir stehen mitten darin. Trunken von Jubel die einen, fahl vor Entsetzen die anderen.« — 21. Juli 1944

Es endet schlecht. Nach dem 20. Juli könnte jeder verdächtig sein – ein falsches Wort, ein verdächtiger Blick. Ruth wird von jemandem bei der Zeitung denunziert. Die Gestapo lädt sie vor.

»Nur mit Mühe ziehe ich mich aus der Affäre. Nach dem Grundsatz: »Angriff ist die beste Verteidigung« entlarve ich den beflissenen Parteigenossen als jämmerlichen Denunzianten, flechte Namen hoher und höchster Dienststellen in meine Rede, jongliere mit Promi, Schrifttumskammer, Beschwerde bei der Pressestelle der Reichsregierung, wie Rastelli mit seinen Kugeln, und gebe so fürchterlich an, daß der verhörende Beamte immer kleinlauter wird. Zu guter Letzt entschuldigt er sich beinahe.« — 31. Juli 1944

Aber die Gefängnisse sind überfüllt. Die Gestapo verhaftet jeden, der auch nur entfernt mit dem gescheiterten Attentat in Verbindung steht. Einige von Onkel Emils Kontakten werden gefasst. Was folgt, sind Hinrichtungen — öffentlich, brutal und zu Hitlers Vergnügen auf Film festgehalten. Menschen, die Ruth kannte. Menschen, die sie bewundert hatte. Jetzt tot.

Die Stadt versinkt in noch tiefere Düsternis. Die Schauprozesse beginnen. Die Urteile sind längst gefällt, bevor sie beginnen. Es geht nur um eines: Terror — und Spektakel. Karin, Ruths Tochter und inzwischen selbst Teil der Gruppe, besucht einen dieser Prozesse. Was sie dort sieht, erschüttert sie bis ins Mark:

»Eine Farce. Eine abgekartete Angelegenheit. Sieben Angeklagte. Sieben Todesurteile. Das Publikum sitzt dabei, als handle es sich um eine Zirkusvorstellung. Lacht, grault sich, verspürt im Magen ein wollüstiges Kitzeln. Und während der Pause kauen sie Äpfel und Butterbrote. Pfui!«

»Wenn man bedenkt, daß es Leute gibt, die zu jeder Sitzung gehen. Wie ins Theater oder in einen Kriminalfilm. Und daß sie es freiwillig tun. Freiwillig, aus purem Spaß an der Sache...« — 30. November 1944

Bei einem dieser Prozesse wird Helmuth Graf von Moltke vom Kreisauer Kreis zum Tode verurteilt. Er stand Ruth und „Onkel Emil" nahe. Sie versuchten, ihn zu retten – erreichten sogar Himmler. Es half nichts. Er wird im Januar 1945 hingerichtet.

So beginnt das neue Jahr. Die Besten sind fort. Und die noch am Leben sind – wie Andrik, Ruths Partner – müssen sich verstecken, um nicht in den Volkssturm eingezogen zu werden. Der Volkssturm: eine verzweifelte Armee aus alten Männern und untauglichen Menschen, die jetzt eine sterbende Stadt ohne Hoffnung auf Sieg verteidigen sollen.

1945

Andrik—Leo—versteckt sich irgendwo in Berlin.

Im Februar ist es für ihren Freund Hinrichs, Major Hans Peters, Zeit zu fliehen, bevor er entdeckt wird. Die Hinrichtungen finden jetzt täglich statt. Das Leben in Berlin folgt seinem eigenen Rhythmus: Stunden unter der Erde, Stunden darüber. Ein endloses Pendeln zwischen Kellern und Ruinen. Am 19. Februar erfahren sie von der britischen Bombardierung Dresdens. Ruth schreibt:

»Am vergangenen Dienstag haben sie Dresden schrecklich heimgesucht. Dreimal in vierundzwanzig Stunden luden sie Zentner um Zentner ihrer Bomben dort ab. Bis von der ganzen Stadt kaum ein Haus übrigblieb. Bis aller Glanz einer jahrhundertalten Kultur in Rauch und Flammen erloschen war. Tausende von Menschen fanden den Tod, liefen wie brennende Fackeln durch die Straßen, klebten fest im glühenden Asphalt, stürzten sich in die Fluten der Elbe. Schrien nach Kühlung. Schrien nach Gnade. – Sterben ist Gnade. Sterben ist gut, wenn man wie eine Fackel brennt. Dresden war eine herrliche Stadt. Und es fällt ein bißchen schwer, sich daran zu gewöhnen, daß auch Dresden nicht mehr besteht.« — 19. Februar 1945

Dies sind Tage, an denen jede neue Mission unerwartet kommen kann. So gelingt es Ruth etwa, aus der ausgebombten Wohnung eines Nazi-Funktionärs alles Notwendige zu stehlen — Papier, Stempel, Siegel der Nazi-Partei — um Dokumente und Lebensmittelkarten zu fälschen. Die Gruppe beschafft damit Karten für neun Monate: Lebensmittel, Gemüse, Tabak, Milch. Der Großteil geht an die versteckten Menschen — die sogenannten "U-Boote" — die im ganzen Viertel von den Widerständlern geschützt werden. Es sind die letzten Wochen vor dem Ende. Die sowjetischen Truppen nähern sich. Sie wissen, wer kommt, aber nicht, was sie erwartet.

In der Zwischenzeit sabotieren sie weiter: kappen Kabel, stören die Kommunikation der deutschen Armee, helfen weiteren U-Booten, Unterschlupf hinter falschen Wänden und in versteckten Räumen zu finden.

Dann kommt die große Woche – ihre wichtigste Aktion, in nur wenigen Tagen geplant. Am 16. April treffen sich Ruth, Frank (Walter) und Andrik (Leo) mit der Widerstandsgruppe. Sie breiten eine große Karte von Berlin auf dem Boden aus und erklären den Plan.

»Wir planen eine Aktion über ganz Berlin. Für Mittwoch Nacht. Die erste dieses Umfanges seit 1933. ›Nein‹ heißt das Losungswort. ›Nein‹ soll es von allen Mauern den Nazis entgegenrufen. Mit Kreide oder mit Farbe. Mit Kohle oder mit Tünche. Jeder übernimmt einen bestimmten Stadtbezirk.« (…) »Donnerstag treffen wir uns hier um die gleiche Zeit. Auf die Malaktion folgt eine Flugblattaktion. In der Nacht zu Hitlers Geburtstag.« – »Ich denke, es wird sein letzter sein«, murmelt Andrik. Alle lächeln. – »Leben Sie wohl«, »Und guten Erfolg.« — 16. April 1945

20. April. Die Mission ist abgeschlossen. Überall in der Stadt steht in weißer und roter Farbe dasselbe Wort aus vier Buchstaben. Flugblätter bedecken die Straßen – Botschaften für die Berliner, aber vielleicht auch für die Soldaten, die auf die Hauptstadt vorrücken. Bestraft uns nicht. Wir sind nicht der Feind. Wir haben NEIN gesagt.

Am nächsten Tag, dem 21. April, versinkt die Stadt in Dunkelheit: kein fließendes Wasser, kein Strom, keine Telefonleitungen. Die Schlacht um Berlin steht unmittelbar bevor. Und dennoch laufen am 22. April – unglaublich genug – die Druckerpressen noch. Die Zeitungen des Regimes erscheinen weiterhin auf den Straßen.

»Das Gebot für heute, morgen und alle kommenden Tage heißt: Ohne Ausflüchte und mit verbissenster Leidenschaft: Kampf.« — 22. April 1945

Die Stadt wird befohlen, Selbstmord zu begehen. Die Gestapo jagt weiterhin nach Verrätern und ist auch Frank (Walter) auf den Fersen. Es bleibt noch Zeit, Freunde zu besuchen und sich zu vergewissern, dass es ihnen gut geht – und sich zu verabschieden, bevor sich jeder versteckt, wo er kann. Frank ist jetzt auf der Flucht. Ruth und Andrik bleiben zurück. Sie warten. Bis zum 27. April:

»”Sie kommen!" Ein Mann läuft auf uns zu. Wir hören seine Stiefel über das Pflaster klappern. "Russen im Haus!" gellt eine Stimme. Andrik und ich stehen auf. Endlich! Wir stürzen durch den langen Kellergang. Am vordersten Treppenflur stocken wir geblendet. Der Strahl einer Taschenlampe richtet sich auf uns. Dahinter versinkt die Welt im Dunkel. "Drusja!" sage ich in die Finsternis hinein. "Freunde!" Langsam senkt sich der Lichtkegel. Ich sehe ein bärtiges Gesicht, zwei wachsame Augen – schräggestellt wie Kalmückenaugen – und den hochgeschlagenen Kragen eines Ledermantels. Fahl schimmert der Lauf einer Maschinenpistole. "Drusja!" Der Soldat lächelt.«

»Andrik übernimmt die Verhandlung. »Wir erwarten euch!« sagt er auf russisch. »Wir freuen uns, daß ihr da seid!« Forschend schaut uns der Rotarmist in die Augen. »Wirklich?« – »Wirklich!« Er leuchtet in die offenen Kellertüren hinein, zuckt die Achseln und entfernt sich wieder. Zwei andere kommen. Jung und hochgewachsen. Sie haben Sterne auf den Schulterstücken und blanke Säbel in den Fäusten.

»Nun?« fragt der eine. »Tragen wir Hörner? Sind wir Teufel?« Heftig schütteln wir den Kopf. »Aber ihr sagt, daß wir Teufel sind.« Er tippt mit der Degenspitze auf Andriks Brust. »Warum sagt ihr so etwas Dummes? Warum habt ihr nichts gegen Hitler getan? Warum fürchtet ihr euch vor uns?« Sein Gesicht verändert sich. Wird plötzlich wachsam und angespannt.«

Der Nachmittag zieht sich hin. Die Nacht bricht herein. Keine Russen. Keine Deutschen. Es ist, als hätte der Krieg die Gruppe im Keller vergessen. Die Nacht wird vom Krachen der Scharfschützen durchbrochen—einzelne Schützen. Ein grausames Vermächtnis der letzten Tage des Reiches, jetzt eine Bedrohung für alle.

Die Nacht des 27. April verläuft in Angst, während sie versuchen, die deutschen Scharfschützen aufzuspüren. Um sich zu schützen—nicht nur vor den Scharfschützen, sondern auch vor der Rache der Russen. Doch die Schüsse gehen weiter. Die Russen, gezwungen jede Wohnung zu durchsuchen, gehen von Tür zu Tür. Am nächsten Morgen erreichen sie Ruth und die anderen. Alle werden aufgefordert, mit erhobenen Händen nach draußen zu gehen.

»Ich greife nach Andriks Hand. Beruhigend drückt er meine Finger. Dicht nebeneinander stehen wir inmitten der heranstürmenden Soldaten. Immer noch knallt es heimtückisch aus dem Seitenblock. Da! Kopfüber stürzen zwei Rotarmisten in den Sand. Wie blecherne Töpfe rollen ihre Stahlhelme auf das Pflaster. »Wir sind verloren«, stammle ich. Auch Andrik ist blaß geworden. Auf seiner Stirn stehen große Schweißtropfen.«

»Du schießen!« brüllt er und fuchtelt mit der Maschinenpistole. Im nächsten Augenblick sind wir umstellt. Ich fühle einen Stoß im Rücken. Ich torkle nach vorn. Etwas Kaltes berührt meinen Hals. »Ihr schießen!« schreit es von allen Seiten. Ich laufe. Andrik läuft neben mir. Plötzlich ist auch Stolzberg dabei. Vor uns drei Russen, hinter uns drei Russen. Wie tote Augen starren die Mündungslöcher ihrer Maschinenpistolen. Im Galopp werden wir weggeschleppt. Unsere Füße rennen von selbst. Rennen... stolpern... rennen weiter. Ein Zaun steigt vor uns auf. Mit einem Satz sind wir hinüber. Ich sehe Sträucher, Hecken, Holzkreuze. Der Friedhof. Quer über den Weg liegt ein Toter. Ist es ein Deutscher? Ist es ein Russe?«

Die Gruppe wird von den Soldaten umringt und vorwärts getrieben. Mit ihren Gewehren treiben sie sie voran. Hinunter in einen Keller, eine Art improvisierter militärischer Kommandoposten des Viertels. Mit einer Mischung aus Misstrauen und Neugier wendet sich der kommandierende Offizier an Andrik.

»Warum sprichst du Russisch?« – »Ich bin in Moskau geboren.« – »Warum lebst du hier?« – »Meine Eltern sind Deutsche.« – »Hörtest du unseren Sender?« – »Jeden Morgen um elf.« – »Wann hast du ihn das letzte Mal gehört?« – »Vergangenen Dienstag, als man die deutschen Nachrichten brachte. Dann hat man uns den Strom abgeschnitten.« – »Was sagten wir am Dienstag?« – »Daß man in Lankwitz kämpft und im Friedrichshain, daß man vom Süden und vom Osten her in die Stadt einbricht.« Der Oberst runzelt die Stirn. Wie eiserne Masken starren die Gesichter seiner Offiziere.«

»Andrik richtet sich auf. Alle Schrecken des Todes sind von ihm abgefallen. Kühnheit leuchtet aus seinen Zügen. Kühnheit und eine unbeirrbare Zuversicht. »Wir hassen die Nazis«, sagt er laut. »Zwölf Jahre haben wir auf euch gewartet. Wir waren immer auf eurer Seite.«

Die Soldaten bleiben misstrauisch. Sie beschließen, Andrik einer Feuerprobe zu unterziehen:

»"Kennst du die russische Nationalhymne?" - "Ich kenne sie." "Sing sie uns vor. Wie du sie kennst, wirst du sie auch singen können." Andrik singt und ruhig tönt seine Stimme durch den Raum (…) Er singt um unser Leben. Wir wissen es. (…) Langsam verändern sich die Mienen der vor uns Sitzenden. Aus Masken werden Menschen.

Es ist still im Keller. Die Kerzen schwelen, und wie dichter Nebel hängt der Rauch unzähliger Zigaretten in der Luft. Der Oberst schiebt ein halbgefülltes Teeglas über den Tisch. "Trinken Sie, Towarisch!" In einem Zug stürzt Andrik den Tee hinunter.«

»Als hätte man ihnen ein Zeichen gegeben, springen die Offiziere auf. Sie umringen uns, klopfen uns auf die Schultern. Sie lachen, schütteln uns die Hände und reden auf uns ein in ihrer fremden, unverständlichen Sprache. (…)

Man bietet uns zu essen an. Speck, Wurst, Grütze. »Kushaitje, pashaluista.« Ordonnanzen laufen. Bringen frischen Tee, Zucker und Eingemachtes. Jeder möchte uns etwas schenken. »Ihr habt kein Fleisch? Hier gibt es. Bitte, nehmt. Es fehlt euch an Brot? Da ist es.«

Sie können jetzt alle nach Hause kommen. Endlich frei, mit Nahrung beladen wie zu Weihnachten. Im Keller teilten sie Essen, Lieder und Zigaretten mit den russischen Soldaten. Der Krieg ist vorbei.

»Der Krieg ist aus. In dieser Stunde beginnt für uns der Friede. Du bist frei, Frank Matthis. Du bist frei, Jo Thäler. Frei seid ihr alle, die ihr jahrelang im Verborgenen lebtet. Wald und Hartmann, Ralph, Rita, Konrad und ihr unzähligen Tausende, die ihr Nein sagtet zu Adolf Hitlers Elendspolitik. Das große Unrecht hat aufgehört. Wir grüßen dich, Helmuth von Moltke! Wir grüßen euch, ihr Geschwister Scholl, dich, Ursula Reuber, dich, Heinrich Mühsam, dich, Peter Tarnowsky und Wolfgang Kühn! Wir fangen an. In eurem Namen fangen wir an!« — 28. April 1945

Der letzte Eintrag in Ruths Tagebuch ist vom 24. August 1945:

»Gestern abend um elf Uhr starb Andrik. Die verirrte Kugel einer amerikanischen Streife traf ihn tödlich. Kurz nachdem er vor alliierten Truppen sein letztes Konzert gegeben hatte. »Das nächste Mal werde ich Ihnen Bach vorspielen«, sagte er zu seinem englischen Freund. Dann schoß es. Und dann sagte er nichts mehr.

Andrik Krassnow ist tot. Er war sechsundvierzig Jahre alt, als er das Leben verlassen mußte. Und er lebte gern.«

Epilog: Eine Frau und ihr Vermächtnis.

Nach dem Krieg kehrte Ruth Andreas-Friedrich zum Journalismus zurück. Sie blieb noch drei Jahre in Berlin. Im Herbst 1945 vollendete sie das Tagebuch, aus dem diese Geschichte stammt.

Das Tagebuch wurde 1946 zunächst in den Vereinigten Staaten unter dem Titel Berlin Underground veröffentlicht. Ein Jahr später erschien es in Deutschland als Der Schattenmann, obwohl Ruth es schlicht „Nein!"No! nennen wollte. Ihr Verleger lehnte ab. Jedes Wort in diesem Tagebuch wurde akribisch überprüft. Ruth und die fünf engsten Mitglieder ihrer Widerstandsgruppe „Onkel Emil" mussten 1945 und erneut 1946 den sowjetischen Behörden einen detaillierten Bericht vorlegen.

Diese drei Nachkriegsjahre in Berlin wurden Gegenstand eines zweiten Tagebuchs, Schauplatz Berlin — ein erschütterndes Buch über das Überleben in den Trümmern.

1948 zog Walter Seitz („Frank"), ihr Mitstreiter in der NEIN-Aktion, nach München. Ruth folgte ihm. Sie heirateten. Von dort aus arbeitete sie weiter als freie Journalistin.

Doch Berlin, ihre Stadt, vergaß sie. Als die Stadt in den späten 1950er-Jahren begann, die „Stillen Helden" des Widerstands zu ehren, wurde Ruth übergangen. Sie lebte nicht mehr in Berlin. Sie galt nicht mehr als Berlinerin.

Dennoch blieb sie der Versöhnung verpflichtet. 1959 trat sie dem Vorstand der Deutsch-Israelischen Studiengruppe in München bei und engagierte sich für den Dialog zwischen Juden und Deutschen.

Deutschland sonnte sich damals im Glanz des Wirtschaftswunders. Widerstand — besonders ziviler, gewaltloser Widerstand — hatte keinen Platz in der nationalen Erzählung.

Im Westen blieb Ruths Vermächtnis im Schatten. Ihre Bücher waren vergriffen, ihr Name nahezu vergessen. Doch mit der Zeit wandelte sich etwas. 1972 wurde Der Schattenmann in der DDR veröffentlicht. Es folgten Übersetzungen — ins Französische, Niederländische, Hebräische, Ungarische, Japanische und Brasilianische Portugiesisch. Ein stilles Erwachen.

Am 17. September 1977 nahm sich Ruth Andreas-Friedrich, von ihrem Mann verlassen, das Leben.

Erst in den 1980er-Jahren, als Deutschland begann, seine Erinnerungskultur zu gestalten, erwachte Ruths Stimme wieder zum Leben. Im Mai 1985 wurden Auszüge aus Der Schattenmann und Schauplatz Berlin im Berliner Rundfunk verlesen und öffentlich aufgeführt, um des 40. Jahrestags der Kapitulation zu gedenken. 1988 wurde eine Gedenktafel an dem Gebäude in Berlin angebracht, in dem Ruth gelebt hatte — und von wo aus sie den stillen Aufstand der Gruppe Onkel Emil organisiert hatte.

Hühnensteig 6, Berlin-Steglitz, May 2025, VG
Hühnensteig 6, Berlin-Steglitz, May 2025, VG

2002 wurde sie von Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern geehrt. Zwei Jahre später erhielt ihre Tochter Karin dieselbe Ehrung. Und 2020 gab der Historiker Wolfgang Benz — einer der führenden Experten für Antisemitismus und Nationalsozialismus — dieser vergessenen Gruppe eine neue Stimme. Sein Buch Protest und Menschlichkeit erzählt die Geschichte von Ruth und von etwa zwanzig der mutigsten und diskretesten Kämpfer, die „Onkel Emil" ausmachten.

In jeder Generation gibt es Menschen, die NEIN zu sagen wissen. Nein zur Gewalt. Nein zur Tyrannei. Nein zur Gleichgültigkeit. Einige wenige genügen — nur wenige —, um in Gottes Augen die Existenz ihrer Generation und der nachfolgenden zu rechtfertigen. Nur sechsunddreißig, sagt die Legende. Einige wenige genügen, in den Augen der Menschheit, um ein Land vor ewiger Schande zu bewahren — und es wieder würdig zu machen für einen Platz in der Welt.

Möge das Andenken an Ruth Andreas-Friedrich ein Segen sein. Und möge es uns den Mut geben, NEIN zu sagen, wenn unsere Zeit zu wählen kommt.

1

Helmuth James Graf von Moltke (11. März 1907 - 23. Januar 1945) war ein deutscher Jurist, bedeutender Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und Mitbegründer des "Kreisauer Kreises". Moltke lehnte früh eine Karriere als Richter ab, da er das NS-Regime offen kritisierte. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete er als Völkerrechtsexperte im Amt Ausland/Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht, wo er sich für die Einhaltung des Völkerrechts und die humane Behandlung von Kriegsgefangenen einsetzte. Ab 1940 organisierte Moltke den Kreisauer Kreis, eine zivile Widerstandsgruppe, die Konzepte für eine demokratische und verfassungsmäßige Neuordnung Deutschlands nach der NS-Diktatur entwickelte. Moltke knüpfte Kontakte zu Vertretern verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, darunter Christen, Sozialdemokraten und Gewerkschafter. Nach seiner Verhaftung im Januar 1944 wurde er zum Tode verurteilt und am 23. Januar 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

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Der Kreisauer Kreis war eine Widerstandsgruppe, die sich auf die politische und gesellschaftliche Neuordnung nach dem erwarteten Zusammenbruch des NS-Regimes konzentrierte. Unter der Führung von Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg brachte die Gruppe Menschen unterschiedlichster Herkunft zusammen. Ihre Mitglieder leisteten entschlossen Widerstand gegen das Nazi-Regime und entwickelten zugleich umfassende Pläne für ein demokratisches Deutschland nach Hitler. Sie erarbeiteten detaillierte Konzepte für den Wiederaufbau des Landes nach Hitlers Beseitigung. Ihr Wirken endete tragisch, als nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler viele Mitglieder verhaftet und verurteilt wurden - einige zum Tod durch den Strang. Siehe auch: "Die Grundsatzerklärung des Kreisauer Kreises", herausgegeben am 9. August 1943.

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Samson "Cioma" Schönhaus (1922-2015) war ein deutscher Grafiker und Schriftsteller, der während des Zweiten Weltkriegs als Jude illegal in Berlin im Untergrund lebte. Als geschickter Fälscher stellte er hunderte von Ausweispapieren her, die anderen Juden das Überleben ermöglichten. In enger Zusammenarbeit mit Mitgliedern der Bekennenden Kirche, darunter Franz Kaufmann und Helene Jacobs, gelang es ihm, viele Leben zu retten. 1943 gelang ihm eine waghalsige Flucht mit dem Fahrrad von Berlin in die Schweiz, wobei er einen selbst gefälschten Militärausweis benutzte. Seine Memoiren "Der Passfälscher" (2004, englische Übersetzung "The Forger" 2007) und der Spielfilm "Der Passfälscher" von 2022 (The Passport Forger) erzählen seine bemerkenswerte Geschichte.

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Fabrikaktion ("Fabrik-Aktion") war die letzte große Verhaftungswelle von Juden in Berlin, die vom 27. Februar bis Anfang März 1943 andauerte. Die meisten Opfer waren Fabrikarbeiter oder Angestellte jüdischer Wohlfahrtsorganisationen. Obwohl diese Nazi-Operation in ganz Deutschland stattfand, wurde sie historisch bedeutsam, weil sie den Rosenstraße-Protest auslöste - die einzige öffentliche Massendemonstration deutscher Bürger gegen die Deportation von Juden.

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Das sechste und letzte Flugblatt der Weißen Rose wurde ihnen zum Verhängnis: Hans und Sophie Scholl wurden am 18. Februar 1943 beim Verteilen der 3.000 Exemplare an der Universität München gefasst. Im Herbst 1943 wurde das Flugblatt in England nachgedruckt, dann von britischen Flugzeugen über Deutschland abgeworfen und vom BBC ausgestrahlt. Der vollständige Text hier.

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