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"Kalte Füße": Italiens verdrängte Vergangenheit in der Ukraine
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"Kalte Füße": Italiens verdrängte Vergangenheit in der Ukraine

Francesca Melandris Brief an ihren Vater und die unbequeme Wahrheit über einen vergessenen Krieg und die gegenwärtige Gleichgültigkeit gegenüber der Ukraine.

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Italienische Kriegsgefangene der ARMIR / Autor: unbekannter sowjetische Fotoreporter / Gemeinfrei über Wikimedia

Als Russland am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschierte, war ich in Italien und pflegte meinen kranken Vater. Es waren die letzten Lebensmonate eines über Achtzigjährigen, der mehr als die Hälfte seines Lebens Soldat gewesen war und den gesamten Kalten Krieg miterlebt hatte.

Mein Vater war ein Kind des Zweiten Weltkriegs und Sohn eines Offiziers, der selbst in der Ukraine gewesen war – als Invasor, zwischen 1941 und 1943, mit der italienischen Armee, die Mussolini zur Unterstützung von Hitlers Operation Barbarossa entsandt hatte. Einer von vielen, die dorthin gingen, einer der wenigen, die lebend zurückkehrten.

Als mein Vater die Kriegsbilder und Karten der Invasionsgebiete im Fernsehen sah, erzählte er mir erneut die Geschichte seines Vaters: eine knappe Geschichte voller Unausgesprochenes – die Geschichte eines Offiziers, der in Dnipropetrovsk ein Gefangenenlager für sowjetische Soldaten leitete, die während des ersten, siegreichen und verbrecherischen Vormarsches der Achsenmächte gefangen genommen wurden. Mein Vater sah und hörte schlecht, aber die Namen der Orte erinnerte er noch, auch wenn sie sich inzwischen geändert hatten. Von seinem Vater erinnerte er nur, dass dieser sehr schlecht über die Deutschen sprach: weil er in Dnipropetrovsk wohl gesehen hatte, was sie der lokalen Bevölkerung antaten – sowohl den Ukrainern als auch den Juden, die fast vollständig ausgerottet wurden

In diesen Wochen dachte ich: In wie vielen italienischen Familien holen die Ältesten jetzt wohl tragische Erinnerungen an Väter, Großväter und Urgroßväter hervor?

Mein Vater starb im Dezember 2022. Er erlebte noch den Widerstand der Ukrainer, die zurückeroberten Gebiete und die Gräueltaten, die in den ersten Monaten der Besatzung der Welt offenbart wurden. Was er nicht mehr erlebte, war das allmähliche Nachlassen der Aufmerksamkeit, die fast schon gleichgültige Haltung der Italiener gegenüber der Ukraine. Denn entgegen meiner Hoffnung kehrte statt schwieriger Familiengespräche fast überall Schweigen ein. Die Italiener fühlten sich von diesen Ereignissen nicht betroffen und ignorierten oft die Vergangenheit ihrer eigenen Familien – oder es war ihnen schlicht egal.

Doch eine der besten Stimmen der italienischen Literatur hat dieses Schweigen dann gebrochen: mit einem langen Brief an den Vater, einer biografischen und historischen Erzählung, geschrieben um die Wahrheit der Vergangenheit und Gegenwart wiederherzustellen – und die Italiener an ihre Verantwortung zu erinnern, für die Vergangenheit und die Gegenwart.

Die Autorin ist Francesca Melandri, das Buch, das 2024 zeitgleich in Italien und Deutschland erschien, heißt "Kalte Füße" (auf Italienisch “Piedi Freddi”). Und von diesem Buch erzähle ich euch heute.

»Da sind sie, Papa, die Frauen, von denen du so oft erzählt hast, mit zunehmendem Alter immer mehr. Ich habe sie gesehen, deine Frauen, in der ersten Kriegswoche. In einem YouTube-Video, stell dir mal vor, YouTube kanntest du zu deinen Lebzeiten nicht einmal. Sie trugen Kapuzenjacken und Hausschuhe, diese mythischen Wesen, ohne die du nur ein Name in einem Beinhaus wärst – oder ein Name und sonst nichts –, ohne die es mich nicht gäbe. Es war das Video mit diesem russischen Soldaten, dünn, blass, unheimlich jung. Seine bleichen.«

So beginnt der lange Brief, den Melandri an ihren verstorbenen Vater schreibt: Sie betrachtet ein Video, in dem ukrainische Frauen einen russischen Soldaten versorgen, ihm Essen geben und ihm erlauben, mit ihrem Handy nach Hause zu telefonieren – während andernorts russische Soldaten ukrainische Frauen, Kinder und alte Menschen vergewaltigen und töten. Ukrainerinnen waren es auch, die ihrem Vater während des verheerenden Rückzugs halfen und ihm Essen und Kleidung gaben. Es waren dieselben Frauen, gegen die keine zwei Jahre zuvor deutsche Soldaten und ihre Verbündeten beim Vormarsch in Russland gewütet hatten.

Nur dass es, wie Melandri von Anfang bis Ende ihrer Brief-Erzählung wie ein Mantra wiederholt, gar nicht Russland war – was die Italiener "Russlandfeldzug" nannten, war in Wahrheit die Ukraine.

Wie konnten wir das so lange ignorieren? Wie konnten wir übersehen, dass dieser vermeintliche Kriegszug nach Russland, der tatsächlich in die Ukraine führte, ein Kolonialkrieg war, fragt sich Melandri, während sie die Erinnerungen ihres gestorbene Vaters durchgeht und ihm von den heutigen Geschehnissen an denselben Orten erzählt. Und wie können wir heute leugnen, dass auch Russlands Krieg gegen die Ukraine ein Kolonialkrieg ist? Wie können wir noch zögern, den Dingen ihren richtigen Namen zu geben und die richtige Seite in einem Krieg zu wählen, der nicht nur andauert, sondern bald auch an unsere Tür klopfen könnte?

Diese Unentschlossenheit wird im Englischen als "getting cold feet" ("kalte Füße bekommen") bezeichnet und beschreibt die Angst, etwas Notwendiges anzugehen. Die eisigen Füße sind zugleich eine der Schlüsselerinnerungen der Erzählung, die sich durch die Seiten zieht — eine Erfahrung, die viele Soldaten teilten, als sie ab Dezember 1942 ohne angemessene Ausrüstung Gewaltmärsche durch die Steppen antreten mussten, die wir fälschlicherweise russisch nannten, obwohl sie ukrainisch waren.

Darin liegt die doppelte Bedeutung des Buchtitels: Er verweist einerseits auf die erfrorenen Füße der italienischen Soldaten während des Krieges 1941-42 in der Ukraine und andererseits metaphorisch auf das Zögern Westeuropas gegenüber Putin.

Francesca Melandri, 1964 geboren, war lange Zeit als Drehbuchautorin tätig, bevor sie sich den Büchern widmete. In ihren Büchern – seien es Romane oder wie in diesem Fall eine Mischung aus Biografie und Pamphlet – verwandelt sich der Text unmittelbar in lebendige Bilder im Kopf der Lesenden.

Melandris Werke suchen keine Zuflucht in einer imaginären Vergangenheit: Von der Kolonialgeschichte bis zu den inter-ethnische Spannungen Italiens bringt die Autorin systematisch verschwiegene Wahrheiten und verdrängte Geschichte ans Licht. Diese historische Sensibilität erklärt wohl ihren großen Erfolg in Deutschland, der den in ihrer Heimat sogar übertrifft. In »Kalte Füße« regt Melandri durch den Dialog mit ihrem Vater – in dem sie ihn und sich selbst befragt – uns westeuropäische Leser:innen an, über die wahre Bedeutung des Friedens nachzudenken und über das Gewicht jener Prinzipien, die wir so leichtfertig proklamieren, ohne zu verstehen, dass ihre Verteidigung früher oder später einen Preis fordert.

»Nie wieder Krieg!«, haben wir achtzig Jahre lang gerufen. Und hielten das für eine klare, engagierte Haltung, die bedeutete: »Nie wieder werden wir Militäreinsätze, Genozide oder den Einmarsch von Truppen in fremden Ländern tolerieren, wir werden das mit allen Mitteln bekämpfen und das internationale Recht verteidigen, das auf der Unverletzlichkeit nationaler Grenzen beruht und ohne das es keine Demokratie gibt.« In Wirklichkeit sagten wir lediglich: »Wenn es Krieg gibt, dann bitte nicht vor unserer Haustür. Nur woanders, vielen Dank. Der Krieg darf uns nicht direkt betreffen, uns genügt das vage, wohlige Schaudern immensen Mitgefühls, das uns angesichts des fernen Leids den Rücken hinabläuft« – und immens auch nur deshalb, weil weit genug weg.«

Aber jetzt?

»Der Krieg ist da. Der Krieg hat unseren Kontinent erreicht. Und sosehr wir auch wollen, dass er wie von Geisterhand wieder verschwindet – nein, er verschwindet nicht. Unsere Allmacht ist ausgehöhlt. Nun haben wir die lästige Pflicht, jene Prinzipien anzuwenden, die wir jahrzehntelang vor uns hergetragen haben. Schlimmer noch: Für die Verteidigung dieser Prinzipien sollen wir sogar einen Preis zahlen!«

Melandris Brief-Erzählung folgt keiner Chronologie, sondern ist thematisch und nach ungelösten Fragen geordnet. Im Bewusstsein, für ein Publikum zu schreiben, dem diese Ereignisse wenig vertraut sind, rekonstruiert Melandri – ohne überbordende historische Details – jenen Kolonialfeldzug der Italiener in dem Land, das sie fälschlicherweise Russland nannten, das aber die Ukraine war.

Sie bringt Verschwiegenes und nie Eingestandenes ans Licht: Wie die russischen Soldaten 2022-2023, plünderten auch die Italiener 1941-1942 systematisch die ukrainische Schwarzerde. Mit Zügen und Karren transportierten sie alles Brauchbare nach Italien – ein Land, das zwar am Ende seiner Kräfte war, aber dennoch den Deutschen in aussichtslose Kriege folgte.

»Von Mitte 1942 an, also mit deiner Ankunft, operierte in dem von der ARMIR besetzten Gebiet eine Kommission, die aus Führungskräften von Pirelli, der Gesellschaft der Agrarindustrie, des Landwirtschaftsministeriums und diverser Universitäten bestand. Die Aufgabe dieser Kommission bestand darin, die industrielle Kautschukgewinnung zu organisieren.«

[…]

»Dann gab es natürlich noch die Nahrungsmittel, den schier endlosen Reichtum der Kornkammer Eurasiens. Die faschistische Gesetzgebung sah vor, dass mindestens ein Drittel der in den besetzten Gebieten produzierten Lebensmittel den Zivilisten zugutekam; doch der Befehl der Kommandostellen lautete, der Bevölkerung »nur das überlebensnotwendige Minimum« zu lassen.«

[…]

»Hinzu kamen Mehl, Honig, Butter und vor allem Weizen. Viel, sehr viel Weizen. Einem Unteroffizier gelang es, über Monate hinweg jeden Tag mehrere Zehn-Kilo-Pakete Weizen nach Hause in Italien zu schicken, bis seine Vorgesetzten meinten, dass er es doch ein wenig übertreibe. Und wer weiß, ob nicht auch du das eine oder andere Paket des blonden Goldes aus der Ukraine an deine Mutter Bianca geschickt hast.«

Dieser ganze Teil der Geschichte - die Besetzung, die Ausbeutung, die standrechtlichen Erschießungen - ist aus der italienischen Volkserzählung und den Geschichtsbüchern verschwunden.

Der einzige Teil, der in Italien erzählt wird, ist der Rückzug: die tragische Geschichte der ARMIR (Italienische Armee in Russland), deren Ausmaß und Leid in der italienischen Geschichte beispiellos ist.

Von den 230.000 Mann kehrten etwa 95.000 nicht zurück. Die Rote Armee nahm etwa 70.000 Soldaten gefangen und schickte sie in Lager; nur etwas mehr als 10.000 kehrten nach dem Krieg nach Italien heim. Eine Geschichte, die als Epos erzählt wird, voller Opfer und Freundschaft – aber vielleicht auch mit anderem und Schlimmerem, das wir nie erfahren werden.

Und wir werden es nicht erfahren, weil sich die Opfererzählung durchgesetzt hat: Niemand spricht vom Besatzungsmarsch nach Russland, sondern vom Rückzug aus Russland, das in Wirklichkeit die Ukraine war – als wären die mehr als zweihunderttausend italienischen Soldaten wie in einem Raumschiff dorthin katapultiert worden, nicht in Panzern, gepanzerten Fahrzeugen und Kriegsmotorrädern.

Der Höhepunkt von alledem, erzählt Melandri im Gespräch mit ihrem toten Vater und uns Lebenden, ereignet sich ausgerechnet 2022, im Jahr der großangelegten russischen Invasion: Im Mai 2022 verabschiedet das italienische Parlament ein Gesetz, das den 26. Januar als Gedenktag für den Rückzug der italienischen Soldaten von der russischen Front – also aus der Ukraine – festlegt. Das gewählte Datum entspricht der Schlacht von Nikolajewka, und der Text des ersten Artikels, den Melandri in ihrem Buch zitiert, lautet wie folgt:

»Artikel 1 Die Republik erkennt den 26. Januar eines jeden Jahres als Nationalen Gedenk- und Opfertag der Alpini an, um die Erinnerung an den Heroismus, die Tapferkeit und die Selbstaufopferung der Alpini zu bewahren und die Werte der Verteidigung der nationalen Souveränität und Unabhängigkeit, der Solidarität und der Freiwilligenarbeit zu fördern.«

Schade, bemerkt Melandri, dass dieser Krieg nicht für die Souveränität und Unabhängigkeit Italiens geführt wurde, sondern ein Besatzungskrieg war – in dem Gebiet, das damals Russland genannt wurde, tatsächlich aber die Ukraine ist. Und das Datum?

»Der 26. Januar ist ausgerechnet der Tag vor dem Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. Als ob es völlig egal wäre, dass die Vernichtungsmaschinerie in demselben Krieg ausgeklügelt wurde, in dem die italienischen Soldaten – also auch die Alpini, also auch du, Papa – die Verbündeten der Nationalsozialisten waren. Am 27. Januar 1945, als die Rote Armee Auschwitz befreite, warst du in Turin, in der Redaktion einer Zeitung, die jeden Tag die offiziellen Mitteilungen von Joseph Goebbels veröffentlichte. Und nun, Papa, kommt die unaussprechlichste Frage, die ich dir nie stellen konnte: Als du zum ersten Mal die Bilder der Todesfabriken gesehen hast, was hast du gedacht?«

Je weiter die Erzählung voranschreitet und Gegenwart mit Erinnerungen verwebt, desto mehr unbequeme Fragen stellt sich Francesca Melandri zur Biografie ihres Vaters.

Wie konnte er etwa noch einen Leitartikel unterschreiben, der den Faschismus als einzigen Weg für Italien darstellte – nur Tage bevor Turin von den Partisanen befreit wurde? Für diesen Artikel hätte Franco Melandri, ihr Vater, in der rachsüchtigen Stimmung der Wochen nach 1945 gelyncht werden können. Doch er wurde gerettet von einem Partisanenführer, Massimo Rendina, seinem ehemaligen Gefährten vom Rückzug aus Russland. Rendina erinnerte sich sowohl an ihre gegenseitige Hilfe als auch daran, dass Melandri senior ihn nach ihrer Rückkehr nach Italien nicht verraten hatte.

Jahre später traf Melandri den Partisanen Rendina, um die Geschichte besser zu verstehen, die er mit ihrem Vater teilte. Sie fragte ihn: "Was ist Faschismus?" "Faschismus ist kein politisches Phänomen", antwortete er, "Faschismus ist eine Geisteshaltung". Rendina bestätigte ihr erneut: Ihr Vater war zwar Faschist, aber ein anständiger.

Auch das ist die Wahrheit: Es gab auch "anständige" Faschisten. Doch das entbindet uns nicht von der Notwendigkeit, uns mit dieser Vergangenheit auseinanderzusetzen.

In Wahrheit gibt sich Melandri nicht mit Rendinas Würdigungssiegel zufrieden: Sie fürchtet die Entdeckung, dass ihr Vater an Massakern und Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sein könnte. Mit dem alten Buch ihres Vaters Franco über den Rückzug in der Hand begibt sie sich auf die Suche nach Fakten und Orten. Dies tut sie nicht aus böser Absicht, sondern um die Schatten der Vergangenheit aufzuklären. Das gesammelte Wissen fließt in dieses hervorragend dokumentierte Buch ein.

Die Erzählung ist persönlich und emotional, doch sie enthält Geschichte: die Orte und Daten der Massaker – auch jener von Italienern verübten. Oft sind es dieselben Orte, an denen die Russen Folter und Gewalt an Zivilisten ausübten. Jedem bleibt es selbst überlassen, sich damit weiter auseinanderzusetzen.

Zwischen der Geschichte des chronisch an Amnesie leidenden Nachkriegsitaliens und der Gegenwart fragt sich Melandri, warum nicht nur dieser Krieg, sondern vor allem das Verhältnis zu den Totalitarismen nie wirklich aufgearbeitet wurde.

Besonders beschäftigt sie die Frage: Wie können so viele Italiener Putins Russland mit solcher Nachsicht begegnen und gleichzeitig Selenskyjs Ukraine mit derartiger Gleichgültigkeit?

Bei der Suche nach Antworten blickt Melandri in ihre eigene Vergangenheit zurück: Als Gymnasiastin erlebte sie eine Zeit, in der viele Lehrer überzeugte Marxisten waren und ein Drittel des Landes für eine kommunistische Partei stimmte – eine Partei, die zwar wenig mit dem sozialistischen Realismus gemein hatte, aber dennoch das sowjetische Regime idealisierte. Wie viele im Westen, gesteht Melandri, lernte auch sie das Wort Holodomor erst spät kennen.

Sie erinnert sich an die kühle Sachlichkeit, mit der ihre kommunistische Geschichts- und Philosophielehrerin die "Liquidierung der Kulaken" als wesentlichen Schritt der sowjetischen Agrarreform darstellte. Unerwähnt blieb dabei, dass schon der Besitz weniger Kühe und eines winzigen Landstücks genügte, um als Kulake eingestuft und damit der Liquidierung, Deportation oder dem Hungertod preisgegeben zu werden.

Mit bemerkenswertem Geschick nutzt Melandri ihren Brief-Bericht, um uns tiefer in unsere eigene und die ukrainische Geschichte einzuführen – und um die toxischen Spuren aufzuzeigen, die unser Kommunismus im heutigen Denken hinterlassen hat. Dazu gehört etwa die Vorstellung, Imperialismus existiere nur dort, wo Stars & Stripes wehen, nicht aber im Reich der Sowjetunion und Putins.

Auch ein gewisses Wohlwollen gegenüber Russland hat kulturelle Wurzeln: Im Hause Melandri, wie in meinem Zuhause, füllten russische Literaturgrößen die Bücherregale und genossen gleiches Ansehen wie westliche Autoren.

Niemand wusste von der Existenz einer bedeutenden ukrainischen Literatur. Niemand kannte Gogols ukrainische Herkunft – dass er, im russischen Reich aufgewachsen, zwangsläufig auf Russisch schreiben musste. Die Namen der großen ukrainischen Literatur wurden erst später bekannt, als Russlands Invasionen eine kulturelle Diaspora und Blüte auslösten, die Putin in seiner Blindheit gegenüber der ukrainischen Kultur und Existenz nicht hatte kommen sehen:

»Ich hatte noch nie von Taras Schewtschenko, Lesja Ukraïnka oder Iwan Franko gehört. Ich hatte nie gehört, dass das Ende der zaristischen Zensur von ukrainischsprachigen Publikationen nach der Oktoberrevolution zu einer wahren Blüte für die Werke ukrainischer Schriftsteller und Intellektueller geführt hatte; und ebenso wenig wusste ich, dass Stalin dann in den Dreißigerjahren die Russischsprachigkeit zum sowjetischen Dogma erklärte und fast die gesamte Intelligenz der Ukraine ermorden ließ: mehrere hundert Intellektuelle, Schriftsteller, Dichter, Verleger, Männer und Frauen. Die äußerst produktive künstlerische Kreativität dieser Jahre und ihre totale Vernichtung gingen unter dem Namen “Hingerichtete Renaissance” in die Geschichte ein – und ich hatte nie davon gehört. Zum ersten Mal las ich am 7. März 2022 darüber.«

In Italien, so berichtet Francesca Melandri, verkennt selbst die Hochkultur bis heute den fundamentalen Unterschied zwischen russischer und ukrainischer Literatur. In ihrem imaginären Dialog mit ihrem Vater widmet sich Melandri Wiktorija Amelina zu:

»Deshalb muss ich dir von Wiktorija Amelina erzählen, Papa. Ich weiß, ich bräuchte dir nicht zu erklären, dass uns der Tod eines entfernten Menschen manchmal unerträglicher scheint als der eines Nachbarn – weil er uns stärker betrifft.«

Wiktorija Amelina war, wie Melandri, Schriftstellerin und Kosmopolitin. Nach der russischen Besetzung von Donezk und Luhansk beschloss sie, mehr zu tun: Sie entschied sich, russische Kriegsverbrechen zu dokumentieren. Dies tat sie nicht aus Wut, sondern aus Gerechtigkeitssinn – weil in der Zukunft der einzig mögliche Frieden ein gerechter Frieden sein muss.

Dies ist etwas, das, wie Melandri bemerkt, zu viele Pazifisten in Italien vergessen, wenn sie nur den ersten Teil des Artikels der italienischen Verfassung zitieren: „Italien lehnt den Krieg ab".

Sie lassen den Rest aus: dass Italien die Selbstbestimmung der Völker und die Notwendigkeit der Gerechtigkeit zwischen den Völkern als Bedingung für den Frieden anerkennt. Am 1. Juli 2023 wurde Victoria Amelina von einer russischen Drohne getötet, während sie in einer Pizzeria zu Abend aß.

Sechs Tage später, bei der Preisverleihung des bedeutendsten italienischen Literaturpreises, des Premio Strega, beschloss der Stiftungspräsident auf Anregung seiner Pressestelle, der Schriftstellerin zu gedenken. Er erklärte, wie wichtig es sei, an diesem bedeutsamen Abend für die Literatur unseres Landes, an den tragischen Tod von Wiktorija Amelina zu erinnern ... der bekannten russischen Schriftstellerin (sic).

»Der russischen Schriftstellerin. Russisch, Papa. Er sagt tatsächlich “russisch”.«

Aber niemand, so Melandri, erhob sich in diesem vornehmen römischen Garten – inmitten von Schriftstellern, Journalisten, Verlegern und Medienleuten –, um das Einzige zu sagen, was angesichts dieser ungeheuerlichen Beleidigung hätte gesagt werden müssen:

»Nein, Wiktorija Amelina war eine ukrainische Schriftstellerin, russisch war nur die Rakete, die sie getötet hat.«

Wiktorija Amelina PEN International / Photo: CC BY-SA 4.0

Melandri könnte wütend sein, schreibt aber nicht wütend: Was sie von der ersten bis zur letzten Seite vermittelt, ist eine Mischung aus Verwunderung und Bestürzung. Selbst angesichts derer, die ihr, als sie ankündigt, an einem Buch über ihren Vater und die Ukraine zu arbeiten, sagen:

»Hör bloß auf, Francesca, nicht schon wieder die blöde Ukraine!«

Nur der imaginäre Dialog mit dem Vater vermag dieses Entsetzen zu überwinden – in der Gewissheit, dass ein anständiger Mann wie er, der die Ukraine bereist und über ihren Krieg geschrieben hatte, sich vor Wiktorija Amelina verneigt hätte:

»Und ich weiß, Papa, auch du hättest dich verneigt vor Wiktorija Amelinas Tod, vor der Mutter, Dichterin, Schriftstellerin und Zeugin des Krieges.«

Die letzten Seiten von "Kalte Füße" verwandeln die Bestürzung in eine Streitschrift: gegen die typisch italienische Überlebensstrategie des Vergessens oder der Verwandlung der Tragödie in eine Farce – jene Strategie, die es nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichte, die Geschichte so umzuschreiben, als hätte Italien ihn nicht verloren. Und vor allem richtet sie sich gegen die Strategie der Gleichgültigkeit und des „sind doch eh alle gleich": selbst angesichts der Flut schrecklicher Bilder aus der Ukraine – Bilder, die Melandri zwar beschreibt, aber ohne die schlimmsten Details, wobei sie dem Vater anvertraut, dass sie ihm diese, wäre er noch am Leben, nicht zeigen würde:

»Wenn du jetzt hier wärst, Papa, würde ich dir bestimmte Videos gar nicht zeigen. Zum Beispiel die Videos, auf denen russische Soldaten mit ihren Telefonen filmen, was sie den ukrainischen Gefangenen antun, und weniger noch die von den Massenexekutionen. Ich würde dir nicht die Übersetzung des Telefongesprächs vorlesen – und genauso wenig werde ich sie hier transkribieren –, in dem ein russischer Soldat seiner Mutter erzählt, was er alles mit einem gefangenen angestellt habe, bis die Mutter auflegt, weil sie noch einkaufen muss. Wenn du noch am Leben wärst, würde ich nicht mit dir über die ukrainischen Gefangenen reden…«

Und dennoch konnten trotz dieser Videos und Berichte viele der brillanten italienischen Köpfe – Kommentatoren, Intellektuelle, Journalisten – kein einziges Wort des Mitgefühls äußern. Und, wie Melandri betont, auch die privaten Gespräche sind verstummt.

Alle Ebenen dieser Erzählung – die Kriegserinnerungen des Vaters, die persönlichen Erinnerungen der Tochter, die Bilder des heutigen Krieges und die Dringlichkeit zu verstehen, dass die Ukraine uns alle betrifft – münden in ein Plädoyer für die Übernahme von Verantwortung – nicht Schuld – für die eigene Geschichte: Für die Italiener bedeutet dies die Verantwortung, ein Land auf der falschen Seite gewesen zu sein, ein Kolonialland, das Menschen massakriert, vergast und Gebiete besetzt hat. Für die Ukrainer bedeutet es die Verantwortung – nicht die Schuld – für ihre eigenen Massaker und Pogrome gegen Minderheiten, Polen und Juden.

»Mir persönlich wäre es lieber, Papa, wenn die Menschen, anstatt sich für den Faschismus von gestern schuldig zu fühlen, die Verantwortung für die Demokratie von morgen übernehmen würden.«

Die Übernahme von Verantwortung führt zur Gerechtigkeit, und nur durch Gerechtigkeit kann Frieden entstehen. Es ist noch Zeit, dies zu erreichen, schreibt Melandri und greift dabei die Metapher des Feuers auf, das ihr Vater während des erzwungenen Marsches zur Rettung anzünden wollte, um nicht der eisigen Kälte zum Opfer zu fallen:

»Mein alter Freund, wenn wir hier nicht schnell ein Feuer entzünden, kommen wir alle um vor Kälte.«

»Und wir? Werden wir noch rechtzeitig ein Feuer entzünden können? Ich weiß es nicht, Papa. Aber wenn der Sturm kommt, werden wir es erfahren.«

"Kalte Füße" wurde im Frühjahr 2024 unter dem Titel "Piedi Freddi" in Italien und im Herbst 2024 in den deutschsprachigen Ländern veröffentlicht. Die englische Ausgabe ist für 2025 geplant.

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